Die Welt ohne uns - Making of: Von der Entstehung des Gartens
Botanisches Langzeittheater
Künstlerische Leitung: Aljoscha Begrich, Tobias Rausch + Ausstattung: Kirsten Hamm + Landschaftsgestaltung: Johannes Böttger + Recherche-Mitarbeit: Eva-Maria Reimer + Wissenschaftliche Beratung: Joachim Tantau
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Vorbereitungen auf das Ende der Menschheit
Vorgeschichte: Die Projektidee
Anfang 2009 entwickelten Aljoscha Begrich und Tobias Rausch von lunatiks produktion die Projektidee eines Theaterstücks, das ohne Menschen auskommt. Hauptpersonen sollten Pflanzen sein in einer Welt, in der es keine Menschen mehr gibt. Ist das überhaupt möglich? Wie soll ein solches Theater funktionieren?
Gemeinsam mit der Theaterpädagogin Eva-Maria Reimer begann die Recherche für das Projekt. Dazu führte das Projektteam zahlreiche Interviews und Gespräche mit Wissenschaftlern, Künstlern, Gartenbau-Experten und Pflanzenliebhabern. Das Team wurde verstärkt durch den Landschaftsarchitektur-Studenten Joachim Tantau, der vor allem die wissenschaftliche Recherche unterstützte.
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Kapitel 1: Grundüberlegungen
Warum ist es so schwierig, Abschied zu nehmen? Woher kommt sie, diese übermenschliche Kraft, mit der wir uns auf diesem Planeten festklammern? Warum können wir nicht einfach sagen: Tschüß, war nett hier, haben viel zusammen erlebt - und dann die Tür hinter uns zumachen?
Das Staatstheater Hannover bereitet sich mit Hilfe von lunatiks produktion auf den Abschied der Menschheit von der Erde vor. In seinem fünfjährigen Projekt Die Welt ohne uns wird eine Zukunftsvision durchgespielt, die Utopie und Apokalypse zugleich ist: Wie würde die Welt aussehen, wenn die Menschen verschwinden würden?
Diese Utopie kann nur in einem Garten beginnen, denn er ist beides zugleich: ursprüngliche Natur und menschengemachtes Werk. Der Garten ist damit unser gesamter Planet. Wir haben die Erdoberfläche zu einem globalen Garten verwandelt.
Was wir für Natur halten, ist in Wirklichkeit Kulturlandschaft. Der Garten ist der Startpunkt für Seßhaftigkeit, für Akkumulation von Waren und Eigentum, für Staatsgebilde und Verteidigung des Territoriums gegen das Fremde. Nicht umsonst beginnt die christlich-abendländische Geschichte mit einem Paradiesgarten. Unsere Metropolen und Besiedelungen sind lediglich verdichtete Gärten, in denen nun Aussaat, Ernte und Vorratswirtschaft mit anderen Mitteln betrieben wird.
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Kapitel 2: Entwurf
Der Landschaftsarchitekt Johannes Böttger vom Institut für Landschaftsgestaltung an der Leibniz-Universität zu Hannover hat für das Projekt einen Garten entworfen.
Gärten sind immer Abbild ihrer Zeit. Der barocke Garten repräsentierte das zentralistische Bild eines absoluten Staates. Der englische Landschaftsgarten war Ausdruck einer romantischen Sehnsucht "Zurück zur Natur!". Der Schrebergarten ließ die pragmatische Notwendigkeit zur individuellen Selbstversorgung und Erholung in einer durch die Industralisierung bestimmten Arbeitswelt erkennen. Wie muß also ein Garten in einer Zeit aussehen, die ihre Welterfahrung vor allem am Computerbildschirm macht?
Bei seinem Entwurf hat sich Johannes Böttger durch die Formen und Strukturen von Computer-Platinen leiten lassen. Was liegt näher in der Stadt der Cebit? Ähnlich wie der Schrebergarten zeichnet sich eine Platine durch höchste Ordnung auf engstem Raum aus. Jeder Quadratmillimeter hat eine klare Funktion. Die Haupt-Platine ist die Matrix, auf der sämtliche Prozesse des Computers ablaufen. Es gibt zentrale Elemente, wie eine Wasserpumpe, ein Frühbeet oder Komposthaufen, und Steckverbindungen am Rand, die wie Baumstämme die Platine umgeben und ihre Verbindung in die Umwelt außerhalb des Gartens sind.
Diese Funktionalität und Präzision der ineinandergreifenden Prozesse auf verdichtetem Raum der Computer-Platine ist damit gleichzeitig ein Abbild unserer Gesellschaft, in der Regelkreisläufe hochdifferenzierte und komplexe Prozesse bestimmen. Der Garten als Computer-Platine ist die Matrix, auf der wir unsere virtuelle Zeitreise in die Zukunft antreten und auf der wir die Prozesse für eine Welt ohne den Menschen simulieren.
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Kapitel 3: der richtige Ort
Standort für den Prozessor-Garten ist das Gelände der ehemaligen Kaserne in Hannover-Bothfeld. Die Kaserne in der General-von-Wevers-Straße steht seit über zehn Jahren leer. Viele gebürtige Hannoveraner haben auf diesem Gelände ihre Wehrdienstzeit abgeleistet. Zwischenzeitlich wurde sie als Übernachtungsgelegenheit für Einsatzkräfte bei der EXPO2000 in Hannover genutzt. Seitdem verfallen die Gebäude.
Das gewählte Areal befindet sich zwischen dem Flügel eines ehemaligen Mannschaftsgebäudes und einem Kantinengebäude im Rohbau. Der Bau wurde in den 90er Jahren begonnen, aber nie fertig gestellt.
Das Gelände soll perspektivisch als neues Wohnviertel am nördlichen Rand von Hannover erschlossen werden und wurde zum Zeitpunkt des Projektbeginns von der IGP AG, einer Immobilienentwicklungsgesellschaft aus Berlin, verwaltet.
Update, Mai 2011: Da das Gelände den Eigentümer gewechselt hat, ist das Projekt mitsamt seinem Garten umgezogen. Neuer Standort ist ein Brachgrundstück in Hannover-Stöcken, das im Besitz der Landeshauptstadt Hannover ist.
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Kapitel 4: Anlegen des Gartens
Nach den Plänen des Landschaftsarchitekten Johannes Böttger und unter Anleitung der Ausstatterin Kirsten Hamm haben Auszubildende des städtischen Gartenbaubetriebs GALABAU die Gartenbühne angelegt. Dazu wurde eine Aufschüttung von 50 cm auf einer Fläche von 8 x 8 Metern vorgenommen, die den Garten deutlich sichtbar vom restlichen Brachgrundstück abhebt. Die Aufschüttung hat außerdem den Sinn, daß die Zuschauer eine bessere Sicht-Perspektive auf den Gartenboden haben. Rollrasen, Beete, ein Wasserbecken und Abflußkanal wurden angelegt. Eine Schwengelpumpe und ein Komposthaufen wurden aufgestellt. Die Beete wurden mit Gemüsesorten und Zierblumen bepflanzt. Schließlich wurden über 70 Bäume als natürlicher "Gartenzaun" um die Gartenbühne herum gepflanzt: größtenteils Hainbuchen, aber auch ein Feigenbaum, ein Flammenbaum und eine Tabakpflanze. (Update, November 2010: Die Tabakpflanze wurde zwischen zweitem und drittem Akt durch Unbekannte ausgegraben und gestohlen ...)
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Kapitel 5: Die Observationskapsel
Als Zuschauer-Raum hat die Bühnenbildnerin Kirsten Hamm eine Art Observationskapsel aus Übersee-Containern entworfen. Der Raum besteht aus zwei aneinander koppelbaren Containern (einem sog. "side door" und einem "high cube"). Die Vorderseite eines Containers wurde durch eine Glasfront ersetzt. Im Inneren entstand eine ansteigende Zuschauertribüne aus vier Reihen.
Die Zuschauer können aus diesem hermetisch abgeschlossenen Raum heraus den Garten beobachten. Da der Container tiefer steht als der Erdboden des Gartens, ist es auch für die hinteren Reihen möglich, die Bodenfläche des Gartens zu beobachten.
Die Observations-Kapsel ist mit Licht- und Tonanlage sowie einem Beamer ausgestattet, der Videobilder auf eine Projektionsfläche vor der Glasscheibe projeziert. Die semitransparente Projektionsfläche aus Gazestoff kann wie ein Rollo hoch- und runtergerollt werden. Dadurch ist es möglich, in das Blickfeld auf den Garten Bilder einzublenden (gut zu erkennen auf einem Aufführungsfoto von Akt II - Fortpflanzen).
Fotos zur Entstehung des Gartens und zum Aufbau der Observationskapsel finden Sie in der obigen Fotoleiste!
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Hier finden Sie Kritiken zur Inszenierung.
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Hier finden Sie Videobeiträge des NDR über das Projekt und zu den einzelnen Folgen.
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Links:
Staatstheater Hannover - Akt I