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SCHICHT C - das Lexikon ...


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Im folgenden lesen Sie Ausschnitte aus dem Dokumentationsband zur Inszenierung SCHICHT C - das Lexikon


Interviews
"Alle drei Herren haben sich fein gemacht. Sie sind erwartungsvoll, geben gern ihre Erinnerungen und ihr Wissen weiter, sind aber gleichzeitig in einer bekümmerten Art neugierig, was ihren ihren Schilderungen werden wird. Sie fragen mich über den Prozess der Inszenierung aus. Aus den Mündern der Männer hören sich die Geschehnisse doch noch einmal anders an, als in ihren geschriebenen Berichten, denke ich. Ich kann die wirkliche Verantwortung eines Kommandos über 50 Männer verstehen. 50 Männer, die im Schnee arbeiten und nicht mehr zu sehen sind und nicht wieder auffindbar, falls sie versacken oder sich verirren sollten. Wie ist zu entscheiden, wenn nach einer langen schweren Arbeitsnacht beim Durchzählen auf freier Strecke einer fehlt?
Ich fühle in ihren Stimmen die damalige Angst, die Lok zu schnell oder zu langsam in den Schnee zu fahren. »Wie ein Himmelfahrtskommando fährst du in den Schnee, nichts sehend, nichts wissend.« Die Lokführer mussten »erfühlen«, entscheiden und einen ungeheuren Mut aufbringen, diese Maschinen zu fahren. Ich habe auch noch nie darüber nachgedacht, wie es sein muss, einen Schneepflug mit hoher Geschwindigkeit in den Schnee zu steuern, wie gegen eine Wand."
(Hedwig Golpon über ihr Interview mit drei Eisenbahnern)

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"Schon ein bisschen nervös, aber trotzdem voller Zuversicht ging ich in mein erstes Interview. Voller Erwartung, was wohl passieren mag.
Und wie es oft so ist, es kam erstens anders und zweitens als man denkt. Statt mir seine Erlebnisse zu schildern und über seine besonderen Eindrücke zu berichten, legte mir mein Interviewpartner einen Eintrag aus dem Brigadebuch vor, den ich ja sicher kannte, denn er hatte ihn ja auch dem Theater zur Verfügung gestellt. Er erwartete nun von mir detaillierte Fragen zu Einzelheiten dieses Eintrages, und ich erwartete, dass ich eine Frage stelle und er mir erst mal eine Weile einen Teil seiner Lebensgeschichte erzählte, da ich von diesem Artikel nie erfahren hatte.
So saßen wir an einem Tisch und hatten Erwartungen voneinander, die der andere nicht erfüllen konnte. Er mochte mir auch nicht das Geschriebene noch mal erzählen und antwortete bei jeder etwas allgemeineren Frage mit »Aber das steht ja alles hier drin« und deutete auf den Artikel. Auf Fragen zum Thema »emotionale Momente und Gefühle« antwortete er »Da habe ich nichts zu beizutragen, das war alles ganz nüchtern«. Da der besagte Artikel vom 2. Teil des Winters berichtete, der sich im Februar 1978 abspielte, wollte ich etwas mehr über den 1. Teil um Silvester herum erfahren. Als mir mein Interviewpartner dann jedoch antwortete, das hat ihn nicht weiter berührt, war ich buchstäblich mit meinem Latein am Ende und mir blieb nichts andres übrig, als mich zu verabschieden."
(Alexandra Kasch über ihr erstes Interview)

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"Nun stand ich da mit einem Namen und wusste nicht so recht, was ich machen sollte. Ich nahm das Telefon zur Hand und rief Herrn Zühlke direkt auf seiner Arbeit an. Nach kurzem Vorstellen und dem Austauschen von mehreren Terminvorschlägen, war schnell ein Termin gefunden.
Kurz vor dem vereinbarten Termin fragte mich Herr Zühlke, ob wir unseren Termin ein wenig verschieben könnten, da er gerne einen Kollgen noch hinzu einladen wollte. Mit dieser Information im Hinterkopf fuhr ich doch etwas aufgeregt und verunsichert zum Interview in der Wohnung von Herrn Zühlke.
Dort angekommen wurde ich förmlich begrüßt und direkt ins Wohnzimmer gebeten, wo der Kollege von Herrn Zühlke, Herr Stein, bereits wartete.
Konfrontiert mit der Situation, zwei Interviewpartner gleichzeitig zu befragen, fühlte ich mich unsicher und etwas erschlagen. Nach dem Stellen der Initialfrage und dem Anschalten des Aufnahmegerätes wurde das Interview zunehmend vertrauter und offener. Zu Beginn hatte ich das Gefühl der unbekannten Distanz zwischen mir und den Interviewten, doch dies löste sich mehr und mehr mit dem Fluss des Gespräches und dem Teilen von Erinnerungen und Ereignissen. Die Zeit verging wie im Fluge, und Herr Zühlke und Herr Stein erzählten mir Anekdoten und Schmunzel-Geschichten, aber auch über die schwierige Situation und die Sorgen, die der Winter mit sich brachte. Auch die Angst vor dem Doppelinterview war verflogen mit dem Gespräch an diesem Abend. Dafür, dass ich ihmmer dachte, dass ein Interview gezwungen und anstrengend ist, wurde es mir mit diesem Eindruck widerlegt und mir gezeigt, welche interessanten Seiten so etwas haben kann."
(Sebastian Thielke über sein erstes Interview)

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Probenarbeit
"Die Darstellung einer Ausnahmesituation ruft nach einer außergewöhnlichen Probensituation: Am Anfang dieser Probenzeit stehen kein festgelegter Text und keine festgelegten Rollen. Stattdessen übernehmen die Schauspieler Patenschaften für mehrere Zeitzeugen. Deren Interviews werden gelesen und in der Runde vorgestellt. Durch Vorlesen und Nacherzählen der Geschichten der Zeitzeugen nähern sich die Schauspieler langsam an die ihnen zunächst fremden Erinnerungen an. Das fällt oft schwerer, als sich an die Lebenswelt eines dänischen Prinzen heranzutasten, obwohl die Ereignisse doch scheinbar näher liegen. Aber hier besteht der Druck der Authentizität; man will die Zeitzeugen nicht enttäuschen und besonders redlich sein, bevor die eigene Phantasie lossprintet. Aber jeder übernimmt gerne die Verantwortung für seine »Patenkinder«.
Dann beginnen die Improvisationen: Situationen, Figuren, Texte werden ausprobiert, aufeinander losgelassen. Ein offener Prozess, in dem sich auch schnell unterschiedliche Arbeitsweisen der Schauspieler zeigen. Der eine will möglichst viel möglichst lange offen lassen, der andere legt gerne schnell fest, einer baut fleißig seine Rollen aus, ein anderer ist Hobby-Dramaturg, einer muss nebenbei noch zwei andere Premieren spielen, einer pendelt ständig zu seiner Liebsten nach Berlin, drei kennen sich schon länger, und dennoch wird aus der Gruppe ein Ensemble.
Dann gibt es die erste Textfassung. Ein Segen, aber auch eine Entscheidung und damit eine notwendige Enttäuschung, denn jetzt wird festgelegt und die Phase der unendlichen Möglichkeiten beendet. Es beginnt die Probenarbeit der klassischen Art, mit der Vorbereitung auf Szenen, Verabredungen, Arbeit an Dialogen, Positionen im Raum, Rhythmus etc. ... Und schließlich die sogenannten Endproben, die sich immer ähneln und doch auch immer anders sind. Der Puls steigt, die Erwartung wächst: was versteht der Zuschauer, mag er sich mit-erinnern?"
(Christian Banzhaf, Schauspieler, über die Probenzeit)

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Stückentwicklung
"Das Theaterstück ist als sogenannte Stückentwicklung entstanden. Am ersten Probentag mit den Schauspielern im Juli 2008 existiert noch keine einzige Zeile Text. Stattdessen bringen Tobias Graf und Antje Horn dicke Aktenordner mit, in denen über zwanzig Interviews, historische Zeitungsartikel und Kopien von Betriebstagebüchern abgeheftet sind. Ein Stückentwicklung ist nur mit sehr kreativen und engagierten Schauspielern möglich. Sie müssen die Figuren, die sie spielen, selbst erfinden und sich selbständig informieren, was diese Figur sagen könnte.
Die Proben beginnen mit dem Lesen der Interviews. Jeder Schauspieler greift sich ein paar Interviews heraus, die ihn interessieren. Was zuerst auffällt: die naturwissenschaftliche Präzision in den Erinnerungen der Zeitzeugen. Zahlen und Daten scheinen besonders wichtig zu sein. Man merkt, daß hier Ingenieure und Techniker sprechen. Bloß nicht übertreiben, immer bei den Fakten bleiben! In vielen Interviews äuern die Zeitzeugen Angst, durch das Theater zu Helden gemacht zu werden. Sie haben nur ihre Arbeit gemacht. Eigentlich war das gar nichts Besonderes! Das ist uns sympathisch. Held - das klingt viel zu sehr nach »Held der sozialistischen Arbeit« oder nach Hollywood. Wir wollen aber lieber die Alltagsgeschichten zeigen, auch wenn sie nicht so spektakulär sind. Mit Styroporwürfeln versuchen wir zu rekonstruieren, wann welcher Zug auf der Strecke zwischen Greifswald und Lubmin eingeschneit war, und verzweifeln fast, weil sich die unterschiedlichen Berichte widersprechen und wir nicht einig sind, ob »Einsatzzug« und »Arbeitszug« dasselbe sind.
Aus dem Nacherzählen der gelesenen Interviews enstehen durch Improvisation Szenen. Die Regieassistenten haben alle Hände voll zu tun, beim Mitschreiben hinterherzukommen. Aus den »Schneeeinfällen«, einem Text des Zeitzeugen Andreas Pfitzmann, entwickelt sich die Szene »Wettervorhersage«, in der Schauspieler Christian Holm eine Liste mit Wörtern erfindet, in denen der Begriff »Schnee« vorkommt. Die Liste wird von Probe zu Probe immer absurder (»Schwarzschnee«, »Bühnenschnee«, »Humorschnee« ...) ­ und schließlich entsteht daraus die Idee, dass unter dem Schnee die alten DDR-Begriffe verborgen sein könnten (»VEB-Schnee«, »Bückware-Schnee«, »Brigade-Schnee«, ...)die heute nicht mehr verwendet werden. Also gewissermaßen der »Schnee von gestern«. Aus dem Interview mit Hannelore Tolstorf, die während ihres Gesprächs mehrmals die Preise von DDR-Produkten aufzählt und schildert, wie die Angestellten von Lebensmittelgeschäften während des Schneewinters Panikkäufe verhindern sollten, entsteht die Szene »Im Handel«.
Aus dem gesamten Material schreibt der Regisseur, Tobias Rausch, im August 2008 einen Stücktext. Erst jetzt haben die Schauspieler einen festen Text, den sie auswendig lernen und jeden Abend spielen können."
(Catrin Darr, Dramaturgin von SCHICHT C)

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Helden
"Unzählige Helden an Lebensadern unseres Bezirkes - Hervorragende Leistungen verbringen nun schon seit einer Woche Werktätige der DDR gemeinsam mit Angehörigen der bewaffneten Organe zur Überwindung der Auswirkungen der Witterungsunbilden [...] Immer mehr Bürger sind selbstlos im Einsatz, um die Auswirkungen von Schnee und Frost zu beseitigen. [...] Durch vorbildliche Leistungen der Kollektive der Energiewirtschaft gelang es, das Versorgungsnetz weiter zu stabilisieren."
(Ostseezeitung, 5. Januar 1979)

"Wir waren sozusagen die Helden, obwohl wir nischt gemacht haben."
(Norbert Stein, Dispatcher, im Interview mit Sebastian Thielke)

"Die Mitarbeiter von Schicht C sowie die unzähligen Arbeiter und Mitglieder von Kampfgruppen, die während der Wintertage die Bahnstrecke nach Lubmin freischaufelten, wurden anschließend durch die Presse und die Parteileitung zu Helden erklärt. Viele Zeitzeugen haben uns erzählt, dass sie dies als unangenehm empfanden und auch nicht wollten, dass sie durch das Theaterstück zu Helden gemacht werden.
Ein Held, so könnte man sagen, ist eine Person, die besondere Fähigkeiten hat, sich uneigennützig für ein Ziel einsetzt und dafür eigenes Risiko nicht scheut. Ein Held wird zum Vorbild für andere erklärt - er wird heroisiert. Aber durch diese Heroisierung werden die Taten dieser mutigen oder engagierten Person missbraucht und für propagandistische Zwecke eingesetzt.
Tatsächlich verblendet der Begriff »Held« häufig die tatsächliche Situation. Er suggeriert, dass hier jemand als einzelne Person eine Entscheidung getroffen hat, die er gegen alle Widerstände und Gefahren durchsetzt. Auch wenn er schließlich scheitern sollte, definiert sich der Held durch seine Aktivität.
Aber ist es nicht meistens so, dass wir nicht selbst entscheiden, sondern dass die Ereignisse uns überrumpeln und wir nur noch spontan reagieren können? Oft hängt unser Handeln von vielen Faktoren ab, die wir nicht selbst in der Hand haben. Es gibt objektive Notwendigkeiten, soziale Zwänge, günstige Gelegenheiten, dumme Zufälle und eine Eigendynamik der Ereignisse, die uns schließlich mitreißt. Diese Eigendynamik kann auch dafür sorgen, dass der Einzelne über sich hinauswächst und mehr leistet, als er sich selbst zugetraut hätte.
Aus diesem Grund will das Theaterstück keine Helden zeigen, die einen heroischen Kampf gegen das Wetter und die Gefahr eines Stromausfalls ausfechten, sondern ein Geschehen, in das viele einzelne Menschen, jeder an seinem Platz, verwoben sind. Nur dadurch, dass jeder seinen Beitrag leistet, wird anschließend eine Geschichte daraus, die uns interessiert und fasziniert."
(Anmerkungen des Regisseurs, Tobias Rausch, zur Inszenierung)

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Ausstattung
"Schnee und lange Schatten und blendend weißes Licht und Zittern und Drehen und vergessene Zeilen und Aquarium und unbeschriebenes Papier und ausgeschlossen und eingeschlossen und schlechte Sicht und Spiegelung.
DIE BÜHNE
100 m weiße Dampfbremsfolie (für Wände 2,30 m Höhe und als Bodentuch 6 x 8 m), Box (2,50 x 1,70 x 2,15 m), die an zwei Seiten mit Spionspiegelfolie bezogen ist (nur durchsichtig bei bestimmtem Lichteinfall), 1 Hochsitz, 1 Trichterlautsprecher, 10 dimmbare Leuchtstoffröhren mit eisblauem Filter.
REQUISITEN
Styroporteile in verschiedenen Größen werden auf der weißen Fläche verteilt (siehe: Das Eismeer von Caspar David Friedrich), Nebelmaschine (bei Szene "Kernspaltung"), weißes Konfetti (für Schneesturm und Fütterung der Fische im Aquarium), Kaffeemaschine (als KKW-Modell), 20 A3-Kopien von Tempo-Erbsen-Packungen (Szene "Im Handel"), Kreppband (als Kinokarten und als Knie-Geld), Pfefferminzdragees (Szene "Pillenrapport"), Windmaschine (Landung des Helikopters).
KOSTÜME
Alle Darsteller tragen schwarze Alltagskleidung (Schauspieler als Orchester), 5 weiße Arbeitskittel."
(Notizen der Ausstatterin, Jelka Plate, zu Bühnen- und Kostümbild)